Armut, Arbeitslosigkeit und marktförmiger Extremismus im Unterricht

Ein Lehr-Lernprozess, der nach dem Prinzip der didaktischen Rekonstruktion gestaltet wird, muss sowohl die didaktische Strukturierung, als auch die fachliche Klärung und last but not least die Berücksichtigung der Perspektive der Lernenden in Einklang bringen. Ein solches Lernen durch conceptual change setzt also stets das Erfassen der Alltagsvorstellungen der Schüler*innen voraus.

 

1. Alltagsvorstellungen der Schüler*innen

Die Alltagsvorstellungen meiner Schüler*innen zum Thema Armut sehen häufig wie folgt aus:

 

(Zahlen = Anteile Zustimmung / Ablehnung)

 

Dies ist das Ergebnis eines von Schüler*innen der zehnten Klasse durchgeführten Brainstormings zu Beginn der Einheit zum Thema Armut. Da Inflation mittlerweile kein Thema mehr ist, ergibt sich folgendes Bild: Schuld an der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich sind Steuern, Faulheit und Ausländer. Arbeitslose nenne ich nicht extra, weil Arbeitslosigkeit laut Schülervorstellungen eine Folge von Faulheit ist.

 

/ Schuld an der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich sind Steuern, Faulheit und Ausländer /

 

Aufgrund der wiederholten Konfrontation mit solchen und ähnlichen Schüler*innenvorstellungen beschloss ich diese Vorstellungen systematischer erfassen um zu überprüfen, ob sie als Ausdruck eines marktförmigen Extremismus nach Groß & Hövermann (2015) zu deuten sind. Um dies zu tun, führte ich zu Beginn der Einheit zum Thema Armut eine Umfrage zum Thema marktförmiger Extremismus durch, um diese dann am Ende der Einheit mit den Schüler*innen zu besprechen und zu reflektieren. Die Ergebnisse der Umfrage und das Thema des marktförmigen Extremismus sollten  also selbst Teil des Lernprozesses werden. 

 

2. Was ist marktförmiger Extremismus?

Klassismus ist neben Rassismus, Sexismus, Ableismus etc., eine spezifische Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Klassismus resultiert aus dem marktförmigen Extremismus (MFE). MFE ist eine spezifische Art der Erweiterung des unternehmerischen Denkens (ökonomistischer Imperialismus) und besteht aus:

 

1. der Reduktion einer Personengruppe auf deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit,

 

2. der Unterscheidung zwischen „ökonomisch nützlichen“ und „ökonomisch weniger nützlichen“ Menschen und

 

3. der systematischen Abwertung von ökonomisch „schwächeren“ Gruppen (Mach 2020: 48).

 

Die gesellschaftliche Sprengkraft des MFE verdeutlichen Groß, Hövermann & Nickel (2023: 245) in der Mitte-Studie. Dort verdeutlichen sie, dass die Überlagerung des MFE mit Krisenerfahrung zur Ausbildung eines libertären Autoritarismus und zur Abkehr der Demokratie führen kann. 

 

3. Neoliberalismus als Katalysator des marktförmigen Extremismus

In Deutschlands erfolgte Mitte der 1980er Jahre eine neoliberale Wende, die auch in der Sozialpolitik sichtbar wurde, „indem vermehrt ‚aktivierend‘ vom Einzelnen, insbesondere von den bislang weniger erfolgreichen mehr Flexibilität, Selbstverantwortung, Aktivität und unternehmerische Initiative gefordert wird“ (Groß & Hövermann 2015:42). Diese Ausweitung der unternehmerischen Verwertungslogik betrifft also nicht nur soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Kindergärten sondern auch zunehmend einzelne Individuen (Groß & Hövermann 2015: 43).

 

"They are casting their problems at society. And, you know, there's no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours." (Margaret Thatcher 1987)

 

Im Zuge der Ausweitung des neoliberalen Leitbilds des unternehmerisches Selbst (Ökonomisierung) werden Aufgaben des Sozialstaates sukzessive vom Staat auf die Individuen übertragen (Individualisierung und Subjektivierung) und damit der Verantwortung des Einzelnen zugeschrieben (Responsibilisierung, Entsolidarisierung und Entpolitisierung). Durch die Kopplung der sozialen Sicherheit an die Arbeit (Kommodifizierung und Prekarisierung) stehen nun die Individuen vor der Herausforderung, flexibel Kosten und Nutzen abzuwägen, sich zu optimieren und sich auf dem Arbeitsmarkt als wettbewerbsfähig zu erweisen (Flexibilisierung, "Employability-sierung") (Groß & Hövermann 2015: 41).

 

Byung-Chul Han beschreibt diese Entwicklung wie folgt: im Neoliberalismus ist “[d]as Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet“ (2014: 10 H. i. O.). „Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmens. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. (Han 2014: 14, H. i. O.).

 

 

Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung, Selbstmotivation, Selbstlernkompetenz, Selbstführung, Selbststeuerung, Selbstregulation, Selbstentfaltung, Selbstkompetenz, Selbstmanagement, Selbstevaluation, Selbstoptimierung, Selbstreflexion…

 

4. Die drei Dimensionen des marktförmigen Extremismus

Der markförmige Extremismus besteht aus den folgenden drei Dimensionen:

 

1. Unternehmerischer Universalismus: verallgemeinerte neoliberale Ideologie des Selbst. Bei fehlender Leistung fällt die Schuld auf den Einzelnen zurück.

 

2. Wettbewerbsideologie: allgemeiner wirtschaftlicher Kampf aller gegen alle, um Fortschritt und Erfolg zu erzielen.

 

3. Ökonomistische Werthaltung: Kategorisierung und Bewertung ganzer Bevölkerungsgruppen nach wirtschaftlichen Nützlichkeitskriterien (Groß & Hövermann 2025: 46; Mach 2020: 49).

 

Groß & Hövermann 2015: 51 (leicht verändert)

 

 

Marktförmiger Extremismus kann zur diskriminierenden Abwertung „Unprofitabler“ führen: „Menschen, die die verbreitete Selbstoptimierungsnormen des unternehmerischen Universalismus und der Wettbewerbsideologie teilen (etwa jeder zweite Deutsche) [tendieren] stark dazu, Menschen auch nach reinen Kosten-Nutzen Kriterien zu bewerten.“ (Groß und Hövermann 2015: 49).

 

5. Ergebnisse von Groß & Hövermann 2015

Bei den „Dimensionen des marktförmigen Extremismus“ sind die Zustimmungsraten zu den Parametern des unternehmerischen Universalismus und der Wettbewerbsideologie besonders ausgeprägt. Die Zustimmung zu ökonomistischen Wertehaltungen ist hingegen gering (Groß & Hövermann 2015). 

 

Bei der „Abwertung ‚Unprofitabler‘“ finden sich bei Groß & Hövermann (2015) die höchsten Zustimmungswerte bei dem Parameter „Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen“. Die Zustimmungswerte bei der Abwertung wohnungsloser Menschen und von Menschen mit Behinderung fallen geringer und deutlicher geringer aus.

 

6. Ergebnisse der Schüler*innen (n = 102)

Mir ist bewusst, dass diese Ergebnisse der Schüler*innen der 10. Klasse (n = 102) nur mit Vorsicht mit den Ergebnissen von Groß & Hövermann verglichen werden können. Dennoch fällt auf, dass die Werte eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen. So sind bei den Schüler*innen im Bereich „Dimensionen des marktförmigen Extremismus“ die Zustimmungsraten zu den Parametern des unternehmerischen Universalismus und der Wettbewerbsideologie ebenfalls am ausgeprägtesten.

 

 

Eine Anmerkung am Rande: Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland der schulische Erfolg von zahlreichen nicht-individuellen Faktoren abhängt, ist es sehr bedenklich, wenn über die Hälfte der Schüler*innen der Aussage zustimmen „Wer sich nicht selbst nicht motivieren kann, der ist selber schuld, wenn er scheitert.“ 

 

Ähnlichkeiten mit denen von Groß & Hövermann (2015) auf. Auch hier sind die höchsten Zustimmungswerte bei der Dimension „Abwertung langzeitarbeitsloser Menschen“ zu finden, wobei die Werte noch höher sind. Rund 60% der Schüler*innen stimmten der Aussage zu, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert seien, einen Job zu finden und circa 72% der Schüler*innen stimmen der Aussage zu, dass Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft leben.  

 

Es kann also abschließend festgestellt werden, dass die Schüler*innen – glücklicher Weise – über kein geschlossenes marktförmig-extremes Weltbild verfügen, da im Bereich „Dimensionen des marktförmigen Extremismus“ nur bei zwei von drei Dimensionen und im Bereich „Abwertung ‚Unprofitabler‘ “ nur bei einer von drei Dimensionen Werte von über 50% erreicht wurde. Dennoch sind diese Ergebnisse besorgniserregend und werfen die Frage auf, woher diese Alltagsvorstellungen kommen und wie diese mit den Schüler*innen bearbeitet werden können.

 

7. Der gesellschaftliche Einfluss auf die Schüler*innenvorstellungen

Bei der Besprechung der Ergebnisse haben die Schüler*innen unter anderem erarbeitet, wie ihr Bild von arbeitslosen Menschen medial vermittelt und konstruiert ist. Einen großen Einfluss schien unter anderem die Stern-TV-Sendung Familie Ritter zu haben (siehe ZDF 2020).

 

Im Unterricht wurde deutlich, dass Schüler*innen zwar über eine gewisse Medienreflexionskompetenz verfügen, aber beim Thema Arbeitslosigkeit und Armut die Inhalte doch recht unreflektiert konsumieren und reproduzieren. Dies liegt vermutlich daran, dass solche Menschenbilder auch gesamtgesellschaftlich eine weite Verbreitung erfahren, insbesondere seit den Hartz-Reformen (siehe Haug 2003Heitmeyer 2007).

 

Die Tatsache, dass von mehreren Schülern (nur Jungen) diskriminierende Thesen von Andrew Tate herangezogen wurde, um das Schicksal von Langzeitarbeitslosen zu erklären, kann als Indiz für die oben dargestellte Tendenz zum libertären Autoritarismus gedeutet werden (siehe belltower.news 2023).

Der Gebrauch von Argumenten aus Rothschild-Verschwörungsmythen – obwohl dieses Thema ein Jahr früher im Geschichtsunterricht kritisch behandelt wurde – , offenbart, wie groß die Wirkung der sozialen Medien und die verworren das Knäul von Alltagsvorstellungen beim Thema Arbeitslosigkeit und Armut bei manchen Schüler*innen sein kann.

 

 

Abschließend kann also festgestellt werden, dass auch wenn Schüler*innen über kein gefestigtes marktförmig-extremes Weltbild verfügen, eine aktiv-reflexive Auseinandersetzung mit den Themen Arbeitslosigkeit und Armut unumgänglich ist, um die Gefahr einer Verhärtung dieses Weltbildes zu unterbinden und Demokratiefähigkeit zu stärken

 

„Die Qualität einer Gesellschaft bemisst sich am Umgang mit ihren schwachen Gruppen“ (Heitmeyer 2002, in: Groß & Hövermann 2015: 41).

 

8. Literatur

  • BelltowerNews 2023: Von neoliberaler Hustler-Männlichkeit in den Faschismus (Link)
  • Groß, E., Hövermann, A. Nickel, A. 2023: Entsicherte Marktförmigkeit als Treiber eines libertären Autoritarismus. In: Zick, A., Küpper, B. & Mokros, N. (Hg.): Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23.  Dietz: 243-258. (Link)
  • Groß, E., Hövermann, A. 2015: Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Inklusion, Abwertung und Ausgrenzung im Namen neoliberaler Leitbilder. In: Inklusion als Ideologie. Frankfurt am Main: Lang: 41-57. (Link)
  • Han, B.-C. 2014: Psychopolitik. Neoliberalismus und die beuen Machttechnicken. S. FischerWissenschaft.
  • Haug, F. 2003: „Schaffen wir einen neuen Menschentyp“. Von Henry Ford zu Peter Hartz. In: In: Das Argument, Jg. 45, H. 4/5, H. 252, 606-617. (Link)
  • Mach, L. 2020: Paradigmenwechsel im Extremismus. In: Soziologiemagazin, 1: 41-63. (Link)
  • Thieme, S. 2013: Der Ökonom als Menschenfeind? Über die misanthropischen Grundmuster der Ökonomik. Verlag Barbara Budrich.
  • ZDF 2020: stern TV Exposed: Familie Ritter und die Gier. (Link)

 

 

 

 

 

 

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